Plastische Systeme
          Doppelhof & Idylle

 







 

Plastische Systeme  von Dieter Lahme - 40 Jahre "Offene Verbindlichkeit"

Ausstellung: Villa Meixner, Brühl vom 13.11. - 6.12.1998
Bilder: Plastisches System "hol´s der Geier!"

Eigentlich ist der Versuch, Sie in die Plastischen Systeme von Dieter Lahme und das ihnen zugrunde liegende Prinzip der Offenen Verbindlichkeit einzuführen paradox, sagt doch der Künstler selbst von seinen Werken "Der Ansatz und die Realität der Systeme ist einfach einfach.", und äußert gleichzeitig sein Erstaunen darüber, dass scheinbar gerade die einfachsten Konzepte der umfassendsten Erläuterung bedürfen. Das Folgende wird insofern nur ein Streiflicht auf die Plastischen Systeme werfen und nur eine ihrer vielfältigen Facetten beleuchten. Sie verbal erklären und in ihrer Komplexität vollständig darstellen zu wollen, ist ebenso unmöglich wie überflüssig. Denn zum einen sind sie auf faszinierend unkomplizierte Weise selbsterklärend, zum anderen besteht gerade in ihrer inhaltlichen Offenheit, die jedem erlaubt, ihn sogar fordert, seine individuelle Interpretation zu finden, ihre wesentliche Qualität.

Der Amerikaner Brian O´Doherty, den manche von Ihnen vielleicht als Künstler unter dem Namen Patrick Ireland kennen, beschreibt in seinen 1976 erstmals erschienen Essays "Inside the White Cube - In der weißen Zelle" den soziologischen, ökonomischen und ästhetischen Kontext in dem die Kunst der Gegenwart steht. Im Zentrum seiner Analyse steht dabei der weiße Galerieraum, die Keimzelle des Kunstbetriebs, wie sie unseren Begriff von Kunst prägt und die Kunst nur auf ihre visuellen Qualitäten hin bewertet, Werke oder Gegenstände überhaupt erst zu Kunstwerken erhebt, von diesen aber gleichzeitig, in einer Art Wechselwirkung in ihrer besonderen Aura bestätigt wird. Der Galerieraum wie ihn Brian O´Doherty beschreibt, akzeptiert den Besucher nur als Auge; sein Körper, seine Bewegung im Raum erscheinen eher unnötig, fast schon unerwünscht und störend. Ich denke, Sie alle kennen die vorwurfsvollen Blicke, die einem in der Ausstellung treffen können, wenn man beim Gehen Geräusche macht, oder die Schrecksekunde, wenn der Diebstahlalarm auslöst, weil man gewagt hat, ein Werk nicht aus 30 cm, sondern aus 20 cm Entfernung anschauen zu wollen. Ganz abgesehen davon, dass man sich als geschulter Ausstellungsbesucher schon fast instinktiv angewöhnt hat, die Hände in den Taschen zu lassen, Das "Bitte-nicht-berühren-Schild" blinkend im Hinterkopf.
Doch dies sind nur die äußeren Phänomene einer künstlerischen Entwicklung, im Zwiespalt zwischen vormodernen Ehrfurchtshaltungen und moderner Entmaterialisierung und Vergeistigung, einer Entwicklung, die Kunstwerke schafft, deren intellektuelles Konzept im Hintergrund schwerer wiegt als das unmittelbare Sichtbare. In der Begegnung mit den Plastischen Systemen sind solche Verhaltensformen unangebracht, entziehen sie sich doch gerade diesem Zwiespalt, in dem sie körperliche Präsenz des Publikums als Grundbedingung anerkennen und zur Entfaltung ihrer Wirkung nutzen.

Mit der Abstraktion und ihrer Steigerung zur reinen Beschäftigung mit der Farbe, wo Bilder nur noch schwarze, blaue, rote Quadrate sind, war die Malerei schon im ersten Drittel unseres Jahrhunderts an einem Eckpunkt angelangt. Schon mit den Ready-Mades eines Duchamp hatte die Kunst alle Ehrfurchtaspekte theoretisch verloren, hielt  und hält faktisch aber noch in ihrer Präsentation und Rezeption an ihnen fest. Während sich viele Künstler an dieser Stelle mit der Aura des Galerie- und Museumsraums, der Aura des ausdruckslosen und gleichzeitig vieldeutigen weißen Kubus auseinander setzen, die Malerei das Verhältnis zwischen Bild und Wand als Thema entdeckt, geht Dieter Lahme einen eigenen Weg. Einen Weg, der wie Sie später selbst spüren werden, nicht zu einer Selbstreflexion der Kunst über sich und ihr Verhältnis zu ihrem Betrachter führt, sondern der aus dem weißen Kubus hinaus auf den Betrachter, auf seine Auffassung, Interpretation und Wahrnehmung hinweist.
Auch wenn die Plastischen Systeme auf einen Blick wie Skulpturen wirken, liegt ihr Ursprung in der Malerei, im Bild auf der zweidimensionalen Fläche
Von der Malerei aus geht Dieter Lahme - ursprünglich zum Grafiker ausgebildet - über die Projektion der Gemälde auf die Oberfläche von Kugeln, die sogenannten "Rundumbilder", in die Plastizität. Die Bilder werden zu berührbaren, anfassbaren Objekten, der Betrachter wird zum Handelnden, der diese Objekte berührt, angreift, um sie zu begreifen. Gleichzeitig löst diese Wanderung der Bilder von der Wand in den Raum sie aus ihren festgelegten Koordinaten; ihr Oben und Unten, ihr Rechts und Links werden wandelbar, beliebig veränderbar, ihr Schöpfer, der sich des Abgrunds zwischen ideeller Offenheit und formaler Geschlossenheit bewusst ist, des Abgrunds, der die Kunst im weißen Kubus in die Krise führte, zieht sich zurück und überlässt folgerichtig dem einzelnen Benutzer den Schritt der Festlegung von Oben und Unten, Rechts und Links, Richtig und Falsch.
Dieter Lahme, seine Plastischen Systeme lösen also ihr Publikum aus seiner angestammten, passiven, distanzierten Betrachterrolle, indem sie es zum Handelnden machen, es von ihrer ureigenen Anlage her zwingen, seinen eigenen Standpunkt festzulegen, sich selbst ein Bild zu machen, sich selbst ins Bild zu stellen. Der Betrachter, seine Haltung ist neben der inhaltlichen Offenheit der Eckpunkt des Lahmeschen Konzepts, er ist das Verbindliche der "Offnen Verbindlichkeit"
Der Schritt aus der Bildfläche hinaus, hinein in die Dreidimensionalität und Flexibilität - mit einem Modewort auch als Interaktion zu bezeichnen - erscheint dabei als logische Folge und als Verweigerung gegenüber dem, was O´Doherty in seinen Essays als "visuelle Kultur" bezeichnet; Dieter Lahme verweigert sich der Tendenz, das Publikum, wenn überhaupt, nur als Auge zu berücksichtigen. Es misstraut dem Auge als einzige, bestimmende Wahrnehmungsinstanz und erkennt früh, dass das Potential der visuellen Wahrnehmung durch ihren einseitigen Appell an den Intellekt begrenzt ist, ihre Bedeutung durch die Flut der technisch reproduzierbaren Bilder relativiert wird und in der endlosen Reihe von Bild und Abbild bald an ihre Grenzen stößt.
So sperren sich die Plastischen Systeme gegen bloße Visualisierung, gegen eine Erfassung nur durch Nachdenken. Sie entfalten ihre visuellen Qualitäten erst dann, sind erst dann betrachtbar, wenn man sie aus ihren Ruhezustand heraus bewegt hat. Dabei appellieren sie nicht zuerst an unseren Intellekt, sondern an einen unserer natürlichsten und unbefangensten Sinne, den - Zitat Dieter Lahme - "langsamen und aufmerksamen Tastsinn". Gerade heute in den von den vielgepriesenen neuen Bild - Medien  geprägten Neunzigern erhält dieser Versuch der Vermittlung durch taktile Reize eine ganz besondere Bedeutung, die der Kunst von Dieter Lahme Aktualität und Brisanz verleiht. In der schönen neuen Medienwelt sind die Plastischen Systeme bewusst anti - medial; Anti-Medialität dabei sowohl verstanden als Ablehnung der Elektronik, des Bildschirms, der Tastatur als Vermittlungsinstrumente, als auch anti-medial im Sinne von unmittelbar. Die Plastischen Systeme zeigen eindrucksvoll und gleichzeitig angenehm unspektakulär, dass Kunst in den Neunzigern zeitgemäß sein kann, ohne den Computer als Medium zu benutzen.
Sie wundern sich vielleicht, dass ich bis jetzt noch kein Wort über die Inhalte der Plastischen Systeme verloren habe. Das hat seinen Grund, den Dieter Lahme folgendermaßen formuliert: "Die Plastischen Systeme können und sollen nie Lösungen sein,  sie können und sollen jedoch Lösungen veranlassen." Die Plastischen Systeme transportieren keine Ideen, sondern sie geben Ihnen Anstöße, selbst Ideen zu entwickeln. Die Inhalte der Plastischen Systeme sind immer die Inhalte ihres jeweiligen Benutzers, die dieser in der Begegnung mit den Stücken, in der Berührung und Bewegung findet. Die Titel können dabei Impulse geben, sie sind aber niemals Programm.
Was mir an dieser Stelle noch bleibt, ist, Ihnen dabei viel Vergnügen zu wünschen. Schalten Sie das Bitte-nicht-berühren-Schild im Hinterkopf aus! Den Rest zeigen Ihnen dann die Plastischen Systeme selbst.

Monika Rieger